<<Wo käme ich da hin, wenn ich immer Mitleid haben wollte! >> sagte der Apotheker. <<Zu mir kommen ständig Menschen, die Schmerzen haben oder krank sind. Soll ich vielleicht jedesmal vor Mitleid in Tränen ausbrechen! >>

Die kleine alte Dame die erst kürzlich ins Dorf gezogen war, sah zu ihm auf, schüttelte den Kopf und wehrte ab. <<Das meine ich nicht. Aber wenn Sie freundlich sind und den Leuten gut zureden, helfen die Mittel besser.>>
Der Mann hob die Hände und ließ sie fallen. <<Die Medikamente helfen oder sie helfen nicht. Da ändert mein Gesicht gar nichts dran. >>

Eine Woche darauf begegnete der junge Tierarzt der alten Dame auf der Dorfstraße. <<Dass Sie kranke Hunde, Katzen, Pferde und Kühe streicheln, soll mir egal sein>>, sagte er ärgerlich. <<Aber hüten Sie sich, an den Viechern herumzudoktern! Das macht hier nur einer, nämlich ich. Und ich werde verdammt unhöflich werden, wenn Sie mir ins Handwerk pfuschen! >> Die alte Dame neigte den Kopf. <<Sie sind bereits unhöflich>>, stellte sie mit einem flüchtigen Lächeln fest. <<Sie brauchen es nicht erst zu werden. Leider sind Sie aber auch noch blind. >> <<Wieso blind? >> fragte der Tierarzt verdutzt und vergaß einen Augenblick seinen Ärger. <<Wenn Sie nicht ebenso blind wären wie alle anderen Menschen, hätten Sie längst erkennen müssen, daß die Kuh vom Bauern Schulte frühzeitig kalben wird und das sie Zwillingskälber bekommt. >> Sie lächelte ihn nachsichtig an und fügt hinzu: <<Merken Sie nun, daß es nicht um Herumdoktern geht, sondern um Wissen? >>

Der weißhaarige alte Landarzt schob die Brille auf die Stirn, betrachtete die kleine alte Dame, die allein im Wartezimmer saß, und sagte: <<Ich war schon neugierig auf Sie. Der Apotheker sagt, seit Sie zu ihm gekommen seien, müsse er, ob er wolle oder nicht, bei jedem Kunden gute Gesundung wünschen, fromme Sprüche machen und vor Freundlichkeit triefen. Es sei wie verhext. Und der Tierarzt behauptet, Sie hätten ihn bis auf die Knochen blamiert. Sie, eine alte Dame aus der Stadt, sagen ihm wann eine Kuh kalbt und wie viele Kälber sie bekommt. - so, nun bin ich dran. Was haben Sie mit mir vor? >>
Sie lachte freundlich. <<Nichts. Ich wollte Sie nur kennenlernen. >>
<<Sie werden es mir sicher nicht übel nehmen, wenn ich das nicht glaube. Ich glaube übrigens auch nicht, daß Sie krank sind und meinen Rat brauchen. >> Die alte Dame machte ein erstauntes, fast verwundertes Gesicht und schüttelte schweigend den Kopf. Der Arzt nickte bestätigend und grinste. <<Wenn ich meinen Freunden, dem Apotheker und dem Tierarzt, sagte, was ich glaube, würden sie mich in eine Anstalt schicken. Trotzdem haben beide Männer Angst vor Ihnen. Ich habe keine Angst vor Ihnen. Werde ich dafür bestraft? >>
<<Oh, Sie werden belohnt werden. Sie sind der dritte, wie die Prinzen im Märchen. Für Sie ist alles leicht. Ich will Ihnen zeigen, wie leicht es ist. Heute Nachmittag um drei Uhr wird man Ihnen den großen mageren Waldarbeiter ins Haus tragen. Er wird sich den Fuß mit der Axt halb abgetrennt haben. Da Sie es wissen, werden Sie vorbereitet sein und den Mann retten können. >>
Der Arzt musterte sie lange und sagte dann ganz ruhig: <<Darüber muss ich nachdenken. Ich möchte allein bleiben. - 
Werden Sie denn um drei Uhr kommen? >>
Gleich nach Mittag stapfte der Arzt eilig durch den Wald. Er folgte dem Klang der Axtschläge. Dann schloss sich seine Hand um den Arm des großen hageren Mannes. <<Komm sofort mit, Andreas! >> befahl er barsch.
Als die alte Dame das Haus betrat, stand der Waldarbeiter Andreas im Garten des Doktors und sägt Holz.
<<Es ist wirklich nicht schwer gewesen>>, sagte der Arzt freundlich und zog sie ans Fenster zum Garten. <<Es war so einfach, dass ich eine kleine Verbesserung planen konnte. Ich habe den Mann aus dem Wald geholt und ihm eine Säge gegeben. Nun hackt er sich nicht ins Bein, und ich brauche ihn nicht zusammenzuflicken. Ihm erspart es Leiden. Mir erspart es Ihre Gaben. >>
<<Verzichten Sie auf Ruhm und Reichtum? >>
Dazu bin ich zu alt geworden, wenn es das war, was Sie mir zugedacht hatten. >>
<<Und ich? >> fragte die alte Dame. <<Warum sollte ich zufrieden sein? >> Sie sah plötzlich uralt aus. <<Sie sind der einzige Mensch, der mich erkannt hat, aber Sie wollen sich nicht beschenken lassen. >>
<<Haben Sie mir nicht eher eine Falle gestellt? >>
<<Keine Falle. Es war eine Prüfung. >> Die alte Dame schritt auf die Tür zu. <<Sie haben sie bestanden. Wünschen Sie sich etwas! >>
<<Bitte>>, sagte er traurig, <<bitte, reisen Sie wieder fort!>>

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